"Die Horrorgeschichten nehmen einen mit"

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Der Psychologe und Fachliche Leiter der Transkulturellen Psychosomatik in der MEDICLIN Klinik am Vogelsang im Interview

Donaueschingen, 14. Mai 2019. Europäer sprechen bei Liebeskummer oft von Herzschmerz, in anderen Kulturen brennt in emotional belastenden Situationen dagegen die Leber. Der kulturelle Hintergrund wirkt sich auch auf Verständnis und Erscheinungsbild psychischer Erkrankungen aus. Das müssen Psychiater und Psychotherapeuten bei der Therapie berücksichtigen. In der MEDICLIN Klinik am Vogelsang hat man sich genau darauf spezialisiert. Prof. Dr. Dr. Jan Kizilhan leitet die transkulturelle psychosomatische Rehabilitation und behandelt vorwiegend Migranten und Flüchtlinge. Dabei begegnet er Phänomenen, die er von deutschstämmigen Patienten nicht kennt.

Herr Prof. Kizilhan, wie sieht Ihre Tätigkeit in der Klinik aus?
Ich bin Leiter der transkulturellen psychosomatischen Abteilung an der Klinik am Vogelsang in Donaueschingen. Dort behandeln wir Menschen aus anderen Kulturen, die meist eine andere Krankheitsvorstellung, ein anderes Krankheitsverständnis haben. Einige darunter sprechen zudem die deutsche Sprache nicht oder nicht ausreichend. Deswegen haben wir Personal eingestellt, das die Patienten in ihrer Muttersprache behandelt. Hauptsächlich geht es dabei um Ängste, Depressionen und Traumafolgestörungen. Da ich mich seit 20 Jahren mit transkultureller Psychiatrie und Psychotherapie und insbesondere Traumafolgestörungen beschäftige, kommen Patienten aus der ganzen Bundesrepublik. Denn die Expertise auf diesem Gebiet ist relativ rar in Deutschland und sogar in Europa.

Sie erwähnten gerade das kulturell unterschiedliche Krankheitsverständnis. Können Sie ein Beispiel nennen?
Menschen aus traditionellen Kulturen beispielsweise können mit dem Begriff Psychologie oder Psychotherapie wenig anfangen. Sie gehen wegen körperlicher Beschwerden – etwa Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, Unwohlsein oder Gliederschmerzen – zum Arzt, obwohl eigentlich eine psychische Erkrankung dahinter steckt. In diesen Kulturen ist auch die Codierung des Körpers unterschiedlich: Viele Patienten haben etwa eine brennende Leber, während in Europa meist das Herz Sitz der emotionalen Befindlichkeit ist. Menschen aus den Balkanländern sowie dem Nahen und Mittleren Osten, die unter Ängsten und Traumastörungen leiden, entwickeln zudem sehr häufig den sogenannten Alpdruck. In Deutschland kennt man diesen Zustand kaum, bei Fachkollegen stößt er daher auf Unverständnis. Wir dagegen können aufgrund der gemeinsamen Sprache und des Wissens um das unterschiedliche Krankheitsverständnis die richtige Diagnose stellen und ein passendes Behandlungsangebot machen.

Können Sie den Begriff Alpdruck weiter erläutern?
Das ist ein Zustand, der in der Regel in der Nacht auftritt. Die Menschen liegen auf dem Rücken, haben das Gefühl, dass eine tonnenschwere Last oder unsichtbare Gestalt sich auf sie niederlegt. Sie sind dann nicht in der Lage, sich zu bewegen. Sie wollen schreien, können aber den Mund nicht aufmachen. Diesen Zustand können sich westliche Menschen vorstellen, als würden sie lebendig und bei vollem Bewusstsein begraben, ohne sich wehren zu können. Durch eine Berührung von außen oder nach zehn bis 20 Minuten wachen diese Patienten auf und können dann nicht mehr einschlafen. Manchmal haben sie tagelang Angst, einzuschlafen, weil sie nicht wieder in diesen Zustand geraten wollen.

Liegt der Behandlungsfokus Ihrer Abteilung auf bestimmten Kulturen?
Nicht überall bekommen wir Fachkräfte. Es ist gar nicht so einfach, einen Psychiater oder Psychotherapeuten zu finden, der zum Beispiel Türkisch und Deutsch spricht. Deshalb müssen wir uns spezialisieren. Dazu haben wir uns die Zahl und Herkunft der Migranten in Deutschland angeschaut. Wir behandeln hauptsächlich Menschen, die aus der Türkei kommen, weil das die größte Migrantengruppe ist. Aufgrund der Flüchtlingssituation behandeln wir aber auch Menschen aus dem Irak, Syrien, Afghanistan oder Pakistan und bieten Psychotherapie derzeit in drei Sprachen – Türkisch, Kurdisch und Arabisch – an. Einige Therapeuten sprechen auch Französisch, das heißt, wir können Menschen aus vielen afrikanischen Ländern einbeziehen. Englisch ist natürlich ebenfalls eine Zweitsprache, die die meisten Therapeuten beherrschen.

Sie engagieren sich zusätzlich dafür, dass Flüchtlinge im Nordirak psychologische Betreuung vor Ort erhalten. Wie funktioniert das?
Dazu muss ich ausholen: Ich habe 2014/2015 von der Landesregierung Baden-Württemberg den Auftrag bekommen, 1.100 irakische Frauen und Kinder, die in den Händen des IS waren, zur Behandlung nach Deutschland zu bringen. Parallel haben wir an 21 Orten Baden-Württembergs Krankenhäuser, Psychiater, Therapeuten und Sozialarbeiter geschult und Dolmetscher organisiert. Aufgrund dieser Tätigkeit sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass natürlich nicht alle Flüchtlinge zur Behandlung nach Deutschland kommen können, weil es Millionen sind. Das Wissenschaftsministerium in Baden-Württemberg hat daher ein Projekt von mir bewilligt, in dem wir seit 2017 Psychotherapeuten an der Universität Dohuk im Nordirak ausbilden. Dafür haben wir dort das Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie aufgebaut. Die Studierenden haben einen Bachelor in Psychologie oder einen Medizinabschluss und erwerben eine Doppelqualifikation: Einen Master in Psychotherapie und Psychotraumatologie sowie eine Approbation als Psychotherapeut. MEDICLIN in Donaueschingen unterstützt zwei Studierende mit Stipendien.
Ziel ist, dass diese Psychotherapeuten dann im Irak Traumatisierte oder andere psychisch Schwerkranke behandeln. Diese Ausbildung nach deutschem Psychotherapeutengesetz ist im Nahen und Mittleren Osten einmalig.

Dann waren Sie wahrscheinlich schon einige Male selbst vor Ort.
Ich fahre mindestens jeden zweiten Monat hin. Im Mai bin ich wieder am Institut und unterrichte auch selbst. Aktuell bin ich außerdem Dekan, weil wir die deutschen Strukturen dort aufbauen möchten. Wir hoffen aber, dass die Universität Dohuk das Institut ab 2021 selbst verwaltet. Im Augenblick stammen 80 Prozent der Dozenten – Experten für Borderline, Traumata und Depressionen – aus Europa, vor allem aus Deutschland.

Was haben Sie persönlich und beruflich mitgenommen, als Sie dort waren?
Ich habe ein tieferes Verständnis für die Traumafolgestörung bekommen. Es gibt nicht nur das individuelle Trauma, sondern zwei weitere Typen: das transgenerationelle und kollektive Trauma. Es gibt Minderheiten, die seit 800 Jahren verfolgt werden und bis zu 70 Genozide erlebt haben. Die Frage, welchen Einfluss die Generationen davor haben, die ebenfalls traumatisiert sind oder waren, ist bisher in der modernen Forschung der Psychotraumatologie nicht berücksichtigt worden. Auch die Folgen von kollektiven Traumata haben wir noch nicht ausreichend analysiert und verstanden: Was bedeutet es, wenn eine gesamte Bevölkerung ausgelöscht werden soll? Wie gehen die Überlebenden damit um? In diesen Bereichen müssen wir viel stärker forschen.

Gibt es Einzelschicksale, die Sie besonders bewegt haben?
Natürlich. Ich habe 2015 jeden Tag zehn bis 12 Frauen untersucht, die mir ihre Horrorgeschichten erzählt haben. Wie sie entführt und vergewaltigt wurden. Wie ihre Väter und Ehemänner vor ihren Augen hingerichtet worden sind. Das sind Dinge, die wir uns hier in der westlichen Welt kaum noch vorstellen können. Die nehmen einen mit. Aber das hat bei mir auch wiederum dazu geführt, dass ich mich mehr mit Gewaltforschung auseinandergesetzt habe: Warum sind Menschen so grausam? Menschen töten Menschen – das ist eine Realität. Aber das gibt mir Anlass zu sagen, dass wir viel mehr in diesem Bereich forschen und aus dieser Forschung neue Therapiemodule entwickeln müssen. Weil wir im Nordirak transkulturell ausbilden, bringen auch die Studierenden ihre Kultur mit ein. So können wir viel lernen und nach Deutschland mitnehmen, wo fast 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben, die teilweise bei uns in der Klinik landen. Dieses Wissen bringe ich in die MEDICLIN ein und will neue Techniken entwickeln, die mitunter effektiver sind als die bisherigen.

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Das Interview führte Silke Stadler, Mitarbeiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei MEDICLIN.

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Vorankündigung:
Am Mittwoch, 5. Juni, findet zwischen 9.30 Uhr und 16 Uhr das Forum „Migration & Mental Health“ in der MEDICLIN Klinik am Vogelsang statt. Es bietet allen Interessierten neben Vorträgen und Workshops die Möglichkeit zum Austausch rund um das Thema „Trauma und Sucht bei Menschen mit Migrationshintergrund“. 

Über die MEDICLIN Klinik am Vogelsang
Die MEDICLIN Klinik am Vogelsang in Donaueschingen ist eine Fachklinik für Psychosomatik und Verhaltensmedizin. Die Schwerpunkte der Einrichtung liegen in der Behandlung von Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, funktionellen Störungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, nichtorganischen Schlafstörungen sowie Anpassungsstörungen im beruflichen und sozialen Bereich. Ein besonderer Schwerpunkt der Klinik ist die transkulturelle psychosomatische Rehabilitation, in der kulturelle und religiöse Belange der Patienten Berücksichtigung finden. Die Klinik verfügt über 100 Betten und beschäftigt rund 70 Mitarbeiter.

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Über MEDICLIN
Zu MEDICLIN gehören deutschlandweit 36 Kliniken, sieben Pflegeeinrichtungen, zwei ambulante Pflegedienste und zehn Medizinische Versorgungszentren. MEDICLIN verfügt über knapp 8.300 Betten und beschäftigt rund 10.000 Mitarbeiter.
In einem starken Netzwerk bietet MEDICLIN dem Patienten die integrative Versorgung vom ersten Arztbesuch über die Operation und die anschließende Rehabilitation bis hin zur ambulanten Nachsorge. Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte arbeiten dabei sorgfältig abgestimmt zusammen. Die Pflege und Betreuung pflegebedürftiger Menschen gestaltet MEDICLIN nach deren individuellen Bedürfnissen und persönlichem Bedarf – zu Hause oder in der Pflegeeinrichtung.
MEDICLIN – ein Unternehmen der Asklepios-Gruppe.

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