Überforderte Pflegende: „Ich nehme hier doch einem den Platz weg“

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Chefärztin Dr. Sigrid Krause aus den MEDICLIN Deister Weser Kliniken hilft Menschen mit Corona assoziierten psychosomatischen Erkrankungen

Bad Münder, 26. November 2020. Die Corona-Pandemie beherrscht seit Monaten das politische, öffentliche und private Leben. Auch seelisch gesunde Menschen erleben das als beträchtliche Stressbelastung. Dr. Sigrid Krause, Chefärztin des Krankenhauses für Akutpsychosomatik der MEDICLIN Deister Weser Kliniken, spricht über die Auswirkungen von Corona auf die seelische Gesundheit.

Frau Dr. Krause, können Sie verstehen, dass wir so sehr unter den Auswirkungen der Pandemie leiden?

Frau Dr. Krause: Ja! Wir alle beobachten an uns in dieser Ausnahmesituation neue Verhaltensweisen. Die Gedanken kreisen um das Thema, wir machen uns Sorgen um Angehörige, wir sind frustriert über die Einschränkungen. Das ist eine normale Reaktion. Es wäre sogar ungewöhnlich, wenn jemand von dieser Krise völlig unbeeindruckt bliebe! Hier ist die wichtige Frage: Auf welche Vorerkrankungen trifft das? Aber auch seelisch stabile Menschen können in so einer Ausnahmesituation an ihre Grenzen kommen.

Woran erkennt man, ob man so stark belastet ist, dass man therapeutische Hilfe suchen sollte?

Frau Dr. Krause: Psychische Erkrankungen nehmen zu. Bereits jetzt erlebt jeder vierte Deutsche eine psychische Erkrankung pro Jahr. Die WHO rechnet damit, dass Depressionen ab dem Jahr 2030 die häufigste Erkrankung sein werden. Durch die Pandemie verschärft sich die Situation. Auch Angststörungen nehmen zu. Diese treten oft bei Veränderungen wie einem Umzug oder einer Scheidung auf. Solche Einschnitte sorgen für ein hohes Stressniveau. Nun müssen wir aber mit einer globalen Verunsicherung umgehen!
Eine recht einfache Frage gab uns bisher Orientierung, ob es sich bei jemanden um eine krankhafte Zuspitzung von Ängsten handelt. Diese Frage lautet: ‚Haben Sie Sorgen oder machen Sie sich Sorgen?‘
Menschen mit einer Angststörung neigen dazu, sich Katastrophen vorzustellen. Wenn sie zum Beispiel das Martinshorn eines Krankenwagens hören, fürchten sie gleich, einem Angehörigen sei etwas passiert. Aber in der aktuellen Krisensituation hilft uns diese Fragestellung nicht weiter: Wir haben jetzt Sorgen! Angst um den Job, Sorge um Angehörige, die Ungewissheit, wie es weitergeht.

Sie bieten bereits seit April dieses Jahres in den MEDICLIN Deister Weser Kliniken eine stationäre Behandlung bei „Corona/Covid 19 assoziierten psychosomatischen Erkrankungen“ an. Wen möchten Sie damit erreichen?

Frau Dr. Krause: Wir wollen drei Personengruppen ansprechen: Menschen, die durch die Krise in einer Überforderungssituation geraten sind, weil sie beispielsweise in der Pflege oder im Handel arbeiten. Außerdem Menschen mit einer psychiatrischen oder psychosomatischen Grunderkrankung, wenn diese durch die aktuellen Umstände verschlimmert oder wieder aktiviert wurde. Drittens richtet sich das Angebot an Menschen, die von einer Corona-Erkrankung genesen sind, aber weiter seelische und körperliche Beeinträchtigung zeigen.
Wir erleben, wie stark aktuell die seelische Belastung dieser Patienten ist. Viele gehen mit diesen Belastungen erst einmal zu ihrem Hausarzt. Der hat in diesen Fällen aber gar kein Behandlungsangebot zur Verfügung. Es besteht bei diesem Thema einfach ein Riesenbedarf und darum haben wir dieses Angebot geschaffen.
Glücklicherweise sind wir in Deutschland, was die Psychosomatik und die psychosomatische Reha im weltweiten Vergleich angeht, sehr gut aufgestellt. In vielen Ländern gibt es diese Möglichkeiten gar nicht. Ein Kollege hat beispielsweise regelmäßigen Kontakt zu Kollegen in China. Sein Wissen über Psychosomatik stößt dort auf großes Interesse! Auch hier in Deutschland tausche ich mich in einer Fachgruppe mit Kollegen aus der Somatik, Psychosomatik und Neurologie aus. Wir müssen mehr darüber reden, wie groß die seelische Belastung der Corona-Patienten ist.

Wie helfen Sie Menschen, die mit dieser Belastung zu Ihnen kommen?

Frau Dr. Krause: Wir arbeiten mit den Patienten an Strategien, mit starken Gefühlen umzugehen, die sie zu überwältigen und zu überfordern drohen. Es gibt diesen wichtigen Satz: Starke Emotionen wollen geteilt werden. So finden wir beim Verlust eines Menschen bei der Beerdigung zusammen, um unsere Trauer zu teilen. Aber auch in der Euphorie eines Fußballspiels geht es darum, kollektiv Gefühle zu erleben. Das ist eine wichtige Bindungserfahrung, die nun eingeschränkt ist. Auch die körperliche Berührung fehlt. Das tut weh!
Manche leiden unter der Überlastung, andere darunter, dass sie zur Untätigkeit gezwungen sind. So konnte eine Patientin, die in der Gastronomie arbeitete und kürzlich mehrere schwierige Lebensereignisse durchlebt hatte, ihre Belastungen nun nicht mehr „wegarbeiten“. Sie wurde auf die schwierigen Themen zurückgeworfen, es kamen finanzielle Sorgen hinzu und das alles führte zum Zusammenbruch.
Auch die seelische Belastung einer Quarantäne wird oft unterschätzt.

Was für Belastungen sind das?

Frau Dr. Krause: Im Zusammenhang mit der SARS Epidemie 2003/04 haben chinesische Studien gezeigt, dass bereits nach zehn Tage in Isolation etwa ein Drittel der Betroffenen posttraumatische Belastungsstörungen auftraten. Diese können sich durch sozialen Rückzug, eine Daueranspannung oder Alpträume ausdrücken. Manchmal können Patienten diese Symptome gar nicht zuordnen. Aber die mangelnde Bindungserfahrung und auch der Kontrollverlust belasten enorm.

Was beobachten Sie für Auswirkungen bei Menschen, die im Pflegebereich arbeiten?

Frau Dr. Krause: Bereits vor Corona-Zeiten gingen Menschen, die im Pflegebereich arbeiten, oft über ihre Grenzen. Keiner hat diesen Beruf zufällig ergriffen! Es gibt eine Lebens- und Lerngeschichte, die zu dieser Wahl führte. Menschen in der Pflege zeichnen sich oft durch eine hohe Verausgabungsbereitschaft aus. Ich erschrecke manchmal über die Aussagen solcher Patienten. Da fallen Sätze wie: ‚Ich nehme hier doch einem den Platz weg, der es nötiger hat‘, oder ‚Solange ich mir den Strick noch nicht nehmen will, geht es doch‘. Sie haben zu alledem auch noch das Gefühl, ihre Kollegen im Stich zu lassen, wenn sie ausfallen. Wir möchten diesen Menschen sagen, dass es Hilfe gibt und dass sie einen Anspruch darauf haben.

Wie gelingt es Menschen, die zu solcher Selbstüberforderung neigen, überhaupt, ihr seelisches Gleichgewicht zu halten?

Frau Dr. Krause: Es ist wichtig, einen guten Ausgleich zu haben und Wege zu haben, sich neue Energie zu holen. Viele dieser Wege funktionieren momentan aber nicht wie zuvor. Sei es das „Abreagieren“ im Sportstudio oder das „Auftanken“ bei kulturellen Veranstaltungen. Stattdessen kommen ganz neue Belastungen hinzu: die Angst, infiziert zu werden und schwer zu erkranken oder jemanden anzustecken, die zusätzlichen Belastungen durch aufwändige Hygienemaßnahmen… Viele berichten, dass sie abends ‚wie tot‘ ins Bett fallen. Gerade jetzt wäre es jedoch wichtig, diese Emotionen zu teilen. Aber dazu fehlen die Energie und die Möglichkeiten. Hier wollen wir gemeinsam neue Strategien entwickeln.

Was beobachten Sie bei Menschen, die an Corona erkrankt sind, an Belastungen?

Frau Dr. Krause: Wie ich bereits sagte, kann die Auswirkung einer wochenlangen Isolation traumatisch sein. Hier wollen wir die Menschen unterstützen, das Erlebte zu verarbeiten. Was oft unterschätzt wird, ist die Erfahrung einer künstlichen Beatmung. Diese will nicht nur als körperliche, sondern auch als seelische Belastung bewältigt werden. Auch kann es zu massiven Schuldgefühlen kommen, wenn man jemanden infiziert hat, der dann schwer erkrankt ist.

Wie erleben Menschen mit einer psychischen Vorerkrankung die Pandemie?

Frau Dr. Krause: Es kann für diese Menschen ein starker Druck entstehen. Bestehende oder überwunden geglaubte Ängste und Depressionen können sich zuspitzen oder wieder auftreten. Menschen mit Suchterkrankungen sind ebenfalls gefährdet. Betroffene versuchen mit ihrer Sucht ja, unangenehme Gefühle zu kompensieren. Wenn die emotionale Anspannung steigt, steigt auch die Gefahr von Verschlimmerung und Rückfall.

Sind diese Gefühle wirklich so eine starke Belastung?

Frau Dr. Krause: Ich habe Patienten, denen sage ich: ‚Gehen Sie einmal in Ihr Zimmer. Setzten Sie sich zehn Minuten einfach nur hin. Ohne Handy, ohne Ablenkung.‘ Das schaffen diese Menschen nicht! Sie können die starken Gefühle, die dann hochkommen, nicht aushalten. Eine Frau sagte zu mir: ‚Frau Doktor, Sie können alles von mir verlangen, nur bitte das nicht!‘
Aber genau darum geht es: Gefühle zulassen, mitteilen und so regulieren lernen. Es ist wichtig, aus der Angst herauszukommen. Angst soll schützen. Aber eine reine Angsthaltung verhindert das lösungsorientierte Denken. Unser Gehirn kennt dann nur drei Möglichkeiten: Kampf, Flucht und Verharren. Ein wichtiges Ziel der Behandlung in der Psychosomatischen Abteilung ist deshalb, das Wissen um den Umgang mit Stress zu vergrößern.

Das Gespräch führte Gerda Schwarz.

https://www.deister-weser-kliniken.de/fachbereiche-krankheitsbilder/krankheitsbilder-a-z/behandlung-von-coronacovid-19-assoziierten-psychosomatischen-erkrankungen/#info-54129

Pressekontakt:
Gerda Schwarz
MEDICLIN Unternehmenskommunikation
Okenstr. 27
77652 Offenburg
Telefon 0781 / 488-245
E-Mail: gerda.schwarz@mediclin.de

Über die MEDICLIN Deister Weser Kliniken
Die MEDICLIN Deister Weser Kliniken in Bad Münder umfassen das Haus Deister in der Deisterallee und das Haus Weser in der Straße Lug ins Land.
Im Haus Deister befindet sich eine Fachklinik für Onkologie und Gastroenterologie, eine Fachklinik für Onkologie und HNO sowie eine Fachklinik für Urologie und Nephrologie. Das Haus Weser umfasst die Fachklinik für Akutpsychosomatik und Psychotherapie sowie die Fachklinik für Psychosomatik und Verhaltensmedizin. Die Fachbereiche beider Häuser kooperieren durch ein interdisziplinär ausgerichtetes therapeutisches Konzept. Die Häuser verfügen insgesamt über 331 Betten und beschäftigen rund 190 Mitarbeiter.
Zum MEDICLIN-Standort Bad Münder gehört außerdem die MEDICLIN Seniorenresidenz Deister Weser.

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Über MEDICLIN
Zu MEDICLIN gehören deutschlandweit 36 Kliniken, sieben Pflegeeinrichtungen und neun Medizinische Versorgungszentren. MEDICLIN verfügt über knapp 8.500 Betten/ Pflegeplätze und beschäftigt rund 10.500 Mitarbeiter.
In einem starken Netzwerk bietet MEDICLIN dem Patienten die integrative Versorgung vom ersten Arztbesuch über die Operation und die anschließende Rehabilitation bis hin zur ambulanten Nachsorge. Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte arbeiten dabei sorgfältig abgestimmt zusammen. Die Pflege und Betreuung pflegebedürftiger Menschen gestaltet MEDICLIN nach deren individuellen Bedürfnissen und persönlichem Bedarf.
MEDICLIN – ein Unternehmen der Asklepios-Gruppe.

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