Klima- und Biodiversitätskrise: 16 kritische Bereiche, in denen die Regierenden handeln müssen, um die menschliche Zivilisation zu bewahren
Sperrfrist 24. August 2021 Der jüngste IPCC-Bericht bestätigt einmal mehr, dass die globale Erwärmung immer schneller voranschreitet. Die Auswirkungen zeigen sich in Echtzeit, wenn wir sehen, wie Dörfer überflutet werden und Wälder brennen. Gleichzeitig setzt sich die versteckte Krise des Verlusts der biologischen Vielfalt mit dem Verlust von Wäldern durch Abholzung fort und wird durch die Brände noch verschärft. Da sich die Klima- und die Biodiversitätskrise gegenseitig verstärken, fasst der neue EASAC-Kommentar die neuesten Daten zusammen, um sowohl den UN-Klimagipfel in Glasgow als auch den Biodiversitätsgipfel in China in diesem Herbst zu informieren. Der Schwerpunkt liegt auf 16 Bereichen, in denen dringend gehandelt werden muss, um die Menschheit vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Der Kommentar fasst die zehnjährige wissenschaftliche Arbeit der EASAC in den Bereichen Umwelt, Energie und Biowissenschaften zusammen. Der Hintergrund: ein unaufhaltsamer Anstieg von Temperatur und Luftfeuchtigkeit, der in einigen Gebieten ein Ausmaß erreicht, in dem das Überleben von Menschen oder der für sie notwendigen Nutzpflanzen und -tiere schwierig oder unmöglich ist. Die europäischen Wissenschaftsakademien fügen wissenschaftliche Erkenntnisse hinzu, die zu aktuell sind, um in den IPCC-Bericht aufgenommen worden zu sein, und fordern die Regierungen auf, die Klima- und die Biodiversitätskrise als ein und dieselbe Krise zu begreifen und als gleichermaßen dringend zu behandeln.
Klima- und Biodiversitätskrise müssen als ein und dieselbe Krise adressiert werden
"Die Achterbahnfahrt der extremen Temperaturen, der Trockenheit, der Sturzfluten und der Waldbrände in diesem Sommer war schlimm, aber wahrscheinlich weitaus besser als das, was wir in Zukunft erleben werden", erklärt Prof. Michael Norton, der Direktor des Umweltprogramms von EASAC. "Der Verlust der biologischen Vielfalt und der gefährliche Klimawandel verstärken sich gegenseitig in ihren katastrophalen Folgen. Es ist ein Teufelskreis, der nicht nur zu extremen Wetterereignissen führt, sondern auch zum Zusammenbruch der Nahrungsmittelsysteme und zu einem erhöhten Risiko von gefährlichen Krankheitserregern, Zoonosen und anderen gesundheitlichen Auswirkungen."
Der Kommentar veranschaulicht die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Krisen: Der Ersatz von Tropenwäldern durch die Landwirtschaft verringert die biologische Vielfalt und setzt gleichzeitig gespeicherten Kohlenstoff frei, verringert die Kohlenstoffaufnahme im Boden und erhöht die Emissionen anderer Treibhausgase (THG). Der Anstieg der Temperaturen und die damit verbundenen Veränderungen der Niederschläge verringern die landwirtschaftliche Produktivität und führen dazu, dass Arten aus ihrem Lebensraum verdrängt werden und in einigen Fällen sogar aussterben. Die Erwärmung und Versauerung der Ozeane sowie ihre geschwächte Zirkulation verringern die Fähigkeit der Ozeane, Kohlendioxid (CO2) aus der Atmosphäre zu absorbieren und zu entfernen, während sich die Ökosysteme verändern oder verschlechtern.
Ausstieg aus der Selbstzerstörung
Die Wissenschaftler sehen aber auch Chancen: Die Erhaltung, Bewirtschaftung und Wiederherstellung von Ökosystemen beispielsweise kann den Klimawandel abschwächen, die Anpassung an seine Auswirkungen ermöglichen und gleichzeitig die biologische Vielfalt fördern. "Für diese Herausforderungen gibt es Lösungen, aber bisher fehlte sowohl bei der Klimakonvention als auch bei der Konvention über die biologische Vielfalt der politische Wille, sie umzusetzen, oder die politischen Entscheidungsträger haben es sich zu leicht gemacht, ohne die Folgen richtig zu bedenken", sagt Norton. "Ein klassisches Beispiel dafür ist das Versäumnis, die Auswirkungen der Verbrennung von Bäumen zur Energieerzeugung auf das Klima richtig zu bewerten, bevor Milliarden an Subventionen bewilligt wurden. Die beiden Treffen im Herbst müssen einen Ausweg aus dem derzeitigen System aufzeigen, das zu unserer eigenen Zerstörung führt."
Auf der Grundlage der bisherigen Arbeit von EASAC enthält der Kommentar eine Liste von 16 Handlungsfeldern, in denen die Regierungen längst mehr getan haben sollten. Dabei geht es um den Klimawandel, die Rolle der Biomasse, die Treibhausgasemissionen verschiedener Erdöl-Rohstoffe, Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen im Verkehr, in Gebäuden und in der Infrastruktur sowie um die Wechselwirkungen zwischen Klimawandel und menschlicher Gesundheit.
Sich auf das wachstumsbasierte Wirtschaftssystem zu verlassen, wird nicht funktionieren
Auch systemische Fragen wie die Hindernisse für die transformativen Veränderungen, die zur Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise erforderlich sind, werden angesprochen. "Sich auf das derzeitige System zu verlassen, um die notwendigen Reduktionen zu erreichen, wird nicht funktionieren", so Norton. "Das auf ewigem Wachstum des Bruttosozialprodukts basierende Wirtschaftssystem, in dem die Interessen der fossilen Brennstoffe, der Nahrungsmittelindustrie und der Landwirtschaft die CO2-Werte in die Höhe treiben, sowie Abholzung, Rodung von Land und Überfischung, ist nicht mehr zweckmäßig, wenn die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre in möglichst kurzer Zeit gesenkt werden soll." Die Wissenschaftler machen deutlich, dass die Regierungen den Reset-Knopf drücken müssen. Wenn die Menschheit den Klimawandel aufhalten und die biologische Vielfalt erhalten will, die sie zum Überleben braucht, muss sie das Wirtschaftssystem so ändern, dass nachhaltige Entscheidungen und Verhaltensweisen belohnt und gefördert werden.
Fokus auf Kipp-Punkte versperrt die Sicht auf die zugrunde liegenden linearen Trends
Seit dem Pariser Klimagipfel 2015 wird viel über Kipp-Punkte gesprochen. Laut EASAC verlaufen katastrophale Trends jedoch auch als allmähliche, schrittweise Veränderungen. "Der Fokus auf Kipp-Punkte schafft ein Bild von Relaispunkten, bis zu denen der Klimawandel als 'sicher' angesehen werden kann. Aber nicht nur stehen die verschiedenen Kipppunkte in Wechselwirkung zueinander und erhöhen die Gefahren, auch die zugrunde liegenden linearen Trends wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit sind für sich genommen ernst zu nehmen", erklärt Norton.
Chance für koordiniertes, mutiges und transformatives Handeln
"Als Eltern und Großeltern sind wir genauso entsetzt wie alle anderen über das, was auf uns zukommt. Aber als Wissenschaftler wissen wir, dass es Möglichkeiten gibt, das Schlimmste zu verhindern und sich anzupassen. Aber nur, wenn die Regierungen in Europa und weltweit jetzt Verantwortung übernehmen und Führungsstärke zeigen", sagt Lars Walloe, Vorsitzender des Umweltprogramms der EASAC.
Mit den eng miteinander verbundenen politischen Agenden des Klimagipfels und des Biodiversitätsgipfels haben die Verhandlungsführer die Möglichkeit, koordinierte, mutige und transformative Maßnahmen zu ergreifen, um einen neuen, stärker integrierten und kohärenten Rahmen für die gemeinsame Bekämpfung des Verlusts der biologischen Vielfalt und des Klimawandels zu schaffen. Die Dringlichkeit ist so groß, dass beide jetzt zusammenarbeiten müssen, um die vielen potenziellen Synergien zwischen Klimawandel und Biodiversitätspolitik - wie die massive Wiederherstellung von Ökosystemen - zu nutzen und den Kurs der Menschheit in Richtung einer nachhaltigen Zukunft zu ändern.
Referenzen:
EASAC and FEAM (2021) Decarbonisation of the health sector
EASAC (2021a) Decarbonisation of buildings: for climate, health and jobs
EASAC (2021b) Policy briefs to the Scientific Group of the UN Food Systems Summit 2021
EASAC (2021c) A sea of change: Europe’s future in the Atlantic realm
EASAC (2020a) Hydrogen and synthetic fuels
EASAC (2020b) Towards a sustainable future: transformative change and post-COVID-19 priorities
EASAC (2020c) How can science help to guide the European Union’s green recovery after COVID-19?
EASAC (2019a) Forest bioenergy, carbon capture and storage, and carbon dioxide removal: an update
EASAC (2019b) Decarbonisation of Transport: options and challenges
EASAC (2019c) The imperative of climate action to protect human health in Europe
EASAC (2018a) Commentary on forest bioenergy and carbon neutrality
EASAC (2018b) Negative emission technologies: what role in meeting Paris Agreement targets?
EASAC (2018c) Opportunities for soil sustainability in Europe
EASAC (2018d) Extreme weather events in Europe. Preparing for climate change adaptation
EASAC (2017a) Multi-functionality and sustainability in the European Union’s forests
EASAC (2017b) Valuing dedicated storage in electricity grids
EASAC (2017c) Opportunities and challenges for research on food and nutrition security and agriculture in Europe
EASAC (2016) Greenhouse gas footprints of different oil feedstocks
EASAC (2015) Ecosystem services, agriculture and neonicotinoids
EASAC (2013) Trends in extreme weather events in Europe: implications for national and European Union adaptation strategies
Prof. Michael Norton
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