TV-Ansprachen zum Jahreswechsel: Lust am Aufbruch statt staatstragender Predigt
Berlin/Königswinter, 20. Dezember2017 - Alle Jahre wieder: Zu Weihnachten und Neujahr flimmern die Ansprachen von Bundespräsident und Bundeskanzlerin über die Bildschirme. Zum ersten Mal mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und zum 13. Mal mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, erstmals jedoch als geschäftsführende Regierungschefin. Beides dürfte neugierig machen und für Quote sorgen. Doch sind diese Ansprachen noch zeitgemäß?
„Ja, denn auch eine Demokratie braucht Rituale“, so Jacqueline Schäfer, Präsidentin des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS), in einem Interview. „Oft aber muten die Ansprachen wie eine Trauerrede oder eine Predigt an. Etwas mehr Aufbruchstimmung beim Ausblick täte gut, Freude, Visionen, die sich auch in Tonlage und Mimik ausdrücken. Mehr Motivation, weniger Moralisieren.“
Das Interview in voller Länge:
Fernsehansprachen von Staatsoberhäuptern vor Schneelandschaft, Weihnachtsbaum und Deutschlandfahne – brauchen wir das noch?
Jacqueline Schäfer: Ich finde: Ja. Denn auch eine Republik braucht Rituale. Und am Jahresende nehmen sich die Bürgerinnen und Bürger gerne Zeit zu reflektieren. Sie stellen Fragen und suchen Antworten - auch von den Regierenden.
Angesichts von Twitter und Co. stellt sich aber die Frage, ob die TV-Ansprache das richtige Instrument dafür ist?
Jacqueline Schäfer: Wir sollten die unterschiedlichen Kommunikationskanäle nicht gegeneinander ausspielen, sondern jeden richtig nutzen. In den sozialen Medien sind Schnelligkeit und Kürze gefragt, die TV-Ansprachen hingegen bieten die Möglichkeit, zu mehr Tiefe. Diesen Raum braucht es, weil unsere Welt komplexer geworden ist. Nicht alle Themen lassen sich in wenigen Zeichen oder in 30-Sekündern abhandeln. Zudem sprechen Staatsoberhaupt und Regierungschefin direkt zur Bevölkerung - die Kamera erzeugt fast so etwas wie Blickkontakt. Allein dies verändert die Art der Ansprache.
Viele schauen aus Gewohnheit zu, das Gesagte ist schnell vergessen. Wie kann man das ändern?
Jacqueline Schäfer: Wenn man Reden deutscher Staatsoberhäupter mit denen aus Frankreich, Großbritannien oder den USA vergleicht, fällt auf: In Deutschland dominiert der staatstragenden Ton. Das ist erstmal nicht verkehrt, aber oft muten die Ansprachen wie eine Trauerrede oder eine Predigt an. Etwas mehr Aufbruchstimmung beim Ausblick täte gut, Freude, Visionen, die sich auch in Tonlage und Mimik ausdrücken. Die Redner sollten erklären und ermuntern und nicht erziehen. Deshalb mein Tipp: Mehr Motivation, weniger Moralisieren! Und scheut euch nicht, Gefühle zu zeigen, sondern nehmt uns mit in eure Gedanken- und Gefühlswelt.
Warum ist Ihnen das so wichtig?
Jacqueline Schäfer: Weil Menschen von Menschen geführt werden wollen. Sie wollen spüren, ob sie das, was in den Wahlprogrammen steht, in den Gesichtern, in der Stimme wiederfinden. Vertrauen entsteht durch direkte Ansprache. Gerade jetzt, da vieles kompliziert geworden ist und vermeintliche Gewissheiten verloren gehen. Nur wer zeigt, was ihn treibt und wohin er oder sie will, kann andere motivieren, diesem Weg zu folgen. Kurzum: Es geht um mehr Mut. Zeigt euch!
Ihre Ansprechpartnerin:
Anja Martin, VRdS-Sprecherin
Tel: 0163 63 88 900, E-Mail: anja.martin@vrds.de
Der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) vertritt Redenschreiber aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er fördert die Redekultur im deutschsprachigen Raum. Auf seiner Website gibt es eine frei zugängliche Redenschreiber-Datenbank. Weitere Informationen: www.vrds.de